Selbstannahme

Selbstannahme

NUR WAS ANGENOMMEN IST, KANN ERLÖST WERDEN

Sich selbst annehmen – heißt das, dass eh alles OK ist, wir alle eigentlich tolle Typen sind und uns gar nicht mehr ändern oder bemühen müssten?

„Der heilige Athanasius sagt: Nur was angenommen wird, kann erlöst werden. Diese tiefe psychospirituelle Weisheit besagt, dass ich durch die Selbsterkenntnis und Annahme meiner Selbst soweit kommen muss, dass ich auch meine Schwächen lerne anzunehmen und das Beste daraus zu machen, also in der Schwachheit stark werden, wachsen durch meine Begrenztheit hindurch, Mut, mich anzunehmen in meiner Unzulänglichkeit. Dies lerne ich Schritt für Schritt umso besser kennen, je mehr ich mich traue auf mich und meine Wirklichkeit zu schauen – und dann wird es schwer, die Änderung meiner gewohnten, oft eingefahrenen Verhaltensweisen, die Umwandlung meiner Art und Weise, wie ich mich gebe. Das geht ins Eingemachte und da braucht es den Geist Gottes, dass ich bereit bin, immer wieder hinzuschauen und an mir zu arbeiten, und nicht müde, faul oder feig werde.“

Wie kann man sich eigentlich ehrlich anschauen und sich auch ehrlich annehmen?

„Dies ist eine wichtige Frage und ganz wichtige Grundhaltung im Alltag. Eigentlich ist die Frage eine doppelte, nämlich: welche innere Haltung bringe ich mir selbst entgegen (mein Selbstbild) und welche Haltung erlebe ich, dass mir andere Menschen entgegenbringen (mein Fremdbild). Aus der eigenen Bejahung entsteht das Gefühl von Selbstwert, also das Gefühl für den Wert der eigenen Person.
Das Eigene kann ich nur so ins Leben bringen und der Umgebung sichtbar machen, indem ich eine Grenze ziehe zwischen dem Außen und dem Eigenen. Durch diese Grenzziehung schütze ich mich und außerdem bin ich dadurch erst in der Lage, mein Eigenes zu leben, es sichtbar für andere zu machen.
Durch das Fremdbild wird das Selbstbild ausgeweitet durch das Erleben, ob das, was die anderen von mir sehen, auch zu mir gehört und ich das auch so sehen kann. Es entsteht also im Idealfall eine Kongruenz, also eine Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbild. Das ist dann ehrlich anschauen und ehrlich annehmen, wenn ich erlebe, dass ich und die anderen mich ähnlich sehen – und zwar meine guten und schwachen Eigenschaften oder Verhaltensweisen.“

Ist Annahme seiner selbst in jeder Lebensphase oder Lebenssituation möglich? Muss das immer wieder neu „gelernt“ sein?

„Die wichtigste Grundannahme passiert in den ersten Lebensmonaten. Gelingt es nicht zu meiner Hauptbezugsperson, die meist die Mutter ist, eine Bindung aufzubauen und zwar so, dass Grundvertrauen entstehen, kann ich mich ein Leben lang nicht gut oder – im schlimmsten Fall – gar nicht annehmen. Hier braucht es oft Heilung von Gott her und Nachreifung im emotionalen Bereich. Dafür gibt es erprobte Therapiemodelle, die haltgebend sind und so Sicherheit und Selbstannahme erlernen helfen.“

Sie erwähnen die Mutter. Welche Rolle spielen denn die Eltern für das Kind, den späteren Erwachsenen in Hinblick auf die Selbstaktzeptanz?

„In besonderen Stresssituationen verfalle ich auf meine basalen Grundmuster, also in die Verhaltensweisen, die ich von meinen Eltern als Kind abgeschaut und ganz tief abgespeichert habe. In Extremsituationen reagiere ich immer so wie ein Kind, daher meist ängstlich. Selbstannahme in angstbesetzten Situationen ist von Mensch zu Mensch verschieden, die meisten aber reagieren mit einer Selbstwertschwächung und einer Erschöpfungsreaktion oder Flucht oder Verdrängung. Durch schwere Traumen (das sind tiefe emotionale Verletzungen wie Naturkatastrophen, (sexualisierte oder emotionale) Gewalt oder totale Überforderung) kann zu jederzeit der Selbstwert nachhaltig geschwächt oder zerstört werden, so stark, dass die Person nicht mehr dieselbe ist wie vorher. Bei einer Traumaaufarbeitung, wo auch Versöhnung eine zentrale Rolle spielt, die aber vorbereitende Schritte braucht, wird Selbstwert und Selbstsicherheit neu gelernt und erinnert.“

„Der Heilige Geist wird euch in alle Wahrheit einführen.“ Hat das auch mit Annahme zu tun? Annehmen kann ich doch nur, was ich kenne, oder?

„Wenn ich den Geist Gottes bitte, mich aufzudecken und mir Selbsterkenntnis zu schenken, tut er es auch. Wer bittet, der erhält. Wir Menschen haben aber oft so viele Mechanismen, uns selbst etwas vorzumachen, weil wir glauben, von anderen Verhaltensweisen mehr zu haben. Ein Beispiel ist, dass wir uns oft gerne besser darstellen als wir eigentlich sind. Das Ergebnis ist neben der persönlichen inneren Überforderung eine Differenz zwischen Selbst- und Fremdbild. Der andere erlebt mich dann als nicht kongruent (übereinstimmend) mit dem, was er von mir erlebt. Er erlebt mich nicht echt, unauthentisch und nimmt möglicherweise Abstand von mir. Ich verstehe dann das Verhalten des anderen nicht, weil ich nicht erkenne, dass es an mir liegt, dass die anderen sich durch meine Art abwenden. Hier kann der Geist Gottes helfen, mich ehrlich anzusehen, ändern muss ich mich dann aber selbst.“

Wenn man nun aber gerne anders aussehen würde oder gerne 6 Sprachen könnte, 4 Instrumente spielen und überhaupt das ganze Leben hätte anders laufen sollen? Was dann??

„Das ist dann keine Frage des Selbstwerts, sondern eine Selbstüberschätzung. Die Ent-täuschung ist je nach persönlicher Energiekapazität bald erreicht. Diese Person braucht ein realistisches Selbstbild. Jeder Perfektionismus führt unweigerlich in eine Überforderung und dadurch in eine Frustration und oft Depression, also Sinn- und Energielosigkeit. Innere tiefe Unzufriedenheit und die schmerzhafte Erfahrung, dass ich mein Leben verpfuscht habe, kann helfen wie der verlorene Sohn in Lk 15 in sich zu gehen und umzukehren. Der Selbstwert ist zwar bei Null, aber ich bin offen und kann mir von Gott alles – auch meinen Selbstwert – neu schenken lassen.“

In unserer Gesellschaft gibt es klare Vorgaben, wie man auszusehen hat – kann man sich dem entziehen, was der Mainstream vorgibt? Sind wir nicht alle dazu verurteilt, immer mit uns unzufrieden zu sein?

„Die heutige Gesellschaft ist so diversifiziert, dass heute ohnehin jeder alles sein und machen kann, was er will. Bin hin zur Auswahl seines sozialen Geschlechts: diese Genderideologie ist ein Grund, warum der Selbstwert vieler Menschen so zerstört ist, weil sie keinen Halt mehr haben. Da ist die Lehre der Kirche ganz wichtig, und die Kirche ist gut beraten, wenn sie nicht jeden Mainstream mitmacht – das hilft vielen Menschen aus psychologischer Sicht enorm. Die klare Haltung der Kirche, die Halt vermittelt, hilft auch Fernstehenden und sogar Un- oder Andersgläubigen.“

Wird Selbstannahme von Christen vielleicht manchmal missverstanden? So, als dürfte man an sich selbst nichts Gutes sehen?

„Ja, die Annahme seiner selbst wird bei Christen sogar oft gründlich missverstanden. Warum das? Weil das Gottesbild entscheidet. Doch wir Menschen brauchen Vorstellungen, um uns zu orientieren. So kann es sein, dass wir das Empfinden haben, wenn es uns gut geht, ist das nicht wohlgefällig vor Gott. Oder: wenn wir uns schön oder gut oder gescheit finden, ist das Hochmut und Gott bringt den Stolzen zu Fall. Dann warte ich nur noch auf den Fall und bin ich dann tatsächlich (warum auch immer) gefallen, ist das eine selbsterfüllende Prophezeiung, die meinen Selbstwert wieder schwächt.
Wenn wir ein gesundes Gottesbild eines liebenden Gottes haben, der mich so sein lässt und so annimmt wie ich bin, ist das eine wichtige Hilfe, dass ich mich als Christ annehmen kann.
Oft kommen aber auch die Erfahrungen meiner Kindheit zum Tragen. Wenn ich als Kind nicht gut genug war und immer mehr leisten oder besser funktionieren musste, dann wird es als Erwachsener auch schwer vor Gott und vor mir selbst, mich liebevoll anzuschauen und zu mir sagen zu können: Es ist ok, so wie Du bist. Das strafende Eltern-Ich ist dann oft noch stärker als meine eigene aktuelle Wahrnehmung.“

Wieweit helfen Gebet, ein Leben der Innerlichkeit, Stille und Sammlung bei diesem Prozess der Annahme?

„Das Hinschauen auf Gott und das durch den Blick Gottes Erkennen meiner Armseligkeit und Begrenztheit hilft sehr für eine realistische Selbstannahme. Die Gefahr ist, dass ich durch ein falsches Gottesbild mir ständig wegen allem und jedem ein „schlechtes Gewissen“ mache. Tatsächlich hat das nichts mit schlechtem Gewissen zu tun, sondern es sind aus psychologischer Sicht Schuldgefühle, die keine objektive Schuld darstellen, aber als Schuld empfunden werden. Hier brauche ich jemand, einen geistlichen Begleiter, einen Psychotherapeuten, einen erfahrenen Menschen, der mir hilft, eingebildete Schuld von echter Schuld unterscheiden zu helfen. Das Gebet hilft mir da leider oft wenig, weil ich den Dialog und die Außenwahrnehmung brauche, um nicht in einem solipsistischen Dialog mit Gott mich selbst widerzuspiegeln und mich so implizit dauernd selbst zu bestätigen. Die Lektüre der Bibel oder von Heiligen hilft da etwas, wenn ich in der Lage bin, das Wort Gottes quer zu meinen Denkgewohnheiten zu empfangen und bereit bin, den unbequemen Weg der Umkehr zu gehen.“